Annette Tietenberg
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Welche Rolle spielte die Fotografie bei der räumlich-musealen Rekonstruktion des Kabinetts der Abstrakten in Hannover in den 1960er Jahren? Und welchen Erfahrungsraum eröffnet die rekonstruierte Fassung heutigen Museumsbesucher*innen? Um diesen Fragen nachgehen zu können, greife ich Überlegungen auf, wie sie Ulrich Krempel, Kai-Uwe Hemken und Jakob Gebert im Hinblick auf Ausstellungskopien des Kabinetts der Abstrakten von El Lissitzky und Alexander Dorner sowie des Raums der Gegenwart von Laszlo Moholy-Nagy und Alexander Dorner angestellt haben.[1] Auf der Grundlage der vorliegenden Forschungsergebnisse unternehme ich den Versuch, den Produktions- bzw. Reproduktionsbegriff zu umreißen, dem das Kabinett der Abstrakten in den 1920er Jahren seine Entstehung verdankt. Sodann werde ich die medialen Wechselwirkungen untersuchen, die auf die museale Rekonstruktion Einfluss genommen haben, um mich abschließend dem museologischen Konzept zu widmen, von dem die Rekonstruktion des Kabinetts der Abstrakten zeugt. Ziel ist es, die rekonstruierte Fassung des Kabinetts der Abstrakten in der ihr eigenen Historizität zu erfassen und in den Fokus zu rücken, da diese, so meine These, rezeptions-, ausstellungs- und institutionengeschichtlich nicht minder relevant ist als die ‚originale’ Version des Kabinetts aus den 1920er Jahren.
Vorwegschicken möchte ich ein Statement von Daniel Buren, der seit den 1960er Jahren den Kontext der Kunst reflektiert, indem er die institutionellen Grenzen des Systems Kunst, innerhalb dessen er als Künstler agiert – etwa die Wände des Ausstellungsraums, die Konventionen der Präsentation von Kunst und die seitens der Kurator*innen vorgegebenen Narrative –, sichtbar in Erscheinung treten lässt, kommentiert und subvertiert. Daniel Buren leitet seine Werkdokumentation Erinnerungsphotos 1965-1988 mit folgendem Satz ein:
Wem käme es wohl in den Sinn – es sei denn im Zustand geistiger Umnachtung – ein Krokodil mit dessen Photographie oder auch umgekehrt zu verwechseln: die Folgen wären eher fatal. Mag man auch gegenwärtig noch ohne weiteres – zumindest in unseren Breitengraden – annehmen, dass nur wenige Menschen bei der Unterscheidung zwischen dem Bild einer Sache und der Sache selbst (sogar im Falle eines Hologramms) einer Täuschung unterliegen, für den Bereich der photographischen Abbildung von Kunstwerken gegenüber selbigen, ob flach oder räumlich, trifft diese Annahme nicht zu.[2]
Daniel Buren weist auf eine Differenz hin, die kaum zu bestreiten ist. Weder Kunst noch Kunstausstellungen sind mit ihrer fotografischen Dokumentation, mit den sogenannten installation shots, identisch. Die Kunstausstellung hat sich vielmehr seit dem späten 17. Jahrhundert in Europa und in den USA als ein von Verkaufsinteressen nur selten unberührtes Repräsentations-, Erkenntnis-, (Selbst-) Erfahrungs- und Unterhaltungsmedium herausgebildet[3], das Besucher*innen multisensuell anspricht. Wenn auch die institutionellen Rahmenbedingungen, die Zugangsvoraussetzungen[4] und die Adressatenkreise je nach der jeweiligen historisch-sozialen Situation differieren, so gibt es doch eine wirkmächtige Konstante: Kunstausstellungen waren nie allein auf den Sehsinn fokussiert. Eine bildliche – und somit auch eine fotografische – Repräsentation von Kunstausstellungen stellt mithin gegenüber der situativen Kunstrezeption eine Reduktion dar, da sie das Visuelle favorisiert und sowohl die ganzkörperliche Wahrnehmung von Raum, das Erspüren von Atmosphäre, als auch die Propriozeption ausschließt. Zudem spricht ein Bild bzw. eine Fotografie weder den haptischen noch den vestibulären Sinn an. Kunstausstellungen setzen mithin nicht nur (Kunst-) Geschichtskonstruktionen in Szene, die im Ausstellungskatalog sprachlich manifestiert werden. Sie animieren auch Ausstellungsbesucher*innen dazu, sich leiblich als Gegenüber eines Objekts bzw. als Akteur oder Akteurin innerhalb einer präfigurierten Situation wahrzunehmen. „Jede Ausstellung“, so Hubert Locher, „ […] entwickelt eine spezifische Rhetorik, die sich in der jeweiligen besonderen Realisation eines Zeigegestus artikuliert, der sich in unendlich vielfältiger Weise ausführen lässt, durch eine mehr oder weniger aufwendige Infrastruktur. […] Die Präsentation geht mit der Übermittlung einer Botschaft einher, die durch die besondere Art der Ausstellung dem Objekt angeheftet wird.“[5] Welchem Zeigegestus also war das ‚originale’ Kabinett der Abstrakten verpflichtet? Und welche Botschaft heftete das Ausstellungsdisplay einst den darin präsentierten Objekten an?
Abb. 1El Lissitzky, Kabinett der Abstrakten, 1927. Ursprungsversion im Provinzialmuseum Hannover, 1934. (Bildnachweis: Sprengel Museum Hannover, Wilhelm Redemann).
Das Kabinett der Abstrakten befand sich von 1928 bis 1937 im Raum 45 der Gemäldegalerie des Provinzialmuseums Hannover, dem heutigen Niedersächsischen Landesmuseum Hannover (Abb. 1). Der Leiter der Kunstabteilung, Alexander Dorner – ein Kunsthistoriker, und wie wir heute sagen würden, ein Kurator bzw. Ausstellungsmacher der ersten Stunde, aber auch ein Hochschullehrer, der ein ausgezeichneter Kenner der modernen Kunst war – hatte diesen Ausstellungs- und Lehrraum, prägnant als Demonstrationsraum bezeichnet, im Herbst 1926 bei El Lissitzky in Auftrag gegeben. Die zugrunde liegende kulturpolitische Programmatik fasste Dorner bereits 1924 präzise in Worte: „Ein Kunstmuseum ist in erster Linie ein Erziehungsinstitut der großen Masse des Publikums […] als Erziehungsinstitut aber muß das Museum unter allen Umständen aus seiner passiven Funktion heraustreten.“[6] Der Museums- bzw. Ausstellungsbesucher sollte, so Dorners ‚Botschaft’, keineswegs nur als Empfänger tradierter Narrative der (Kunst-) Geschichte fungieren, sondern als Mitakteur, ja als Komplize der progressiven Künstler und Museumskonservatoren im Ausstellungsraum produktiv in Erscheinung treten. Mit den Konstrukteuren einer ‚neuen’ Welt im Bunde, durfte sich ein solcherart aktivierter Museumsbesucher – dem emphatischen Selbstverständnis der Moderne entsprechend – als ein unverzichtbarer Wegbereiter des ‚Neuen’[7] verstehen: Indem er im Kabinett der Abstrakten selbst Hand anlegte, sollte er unvorhersehbare Konstellationen hervorbringen, Veränderungen am Ausstellungsdisplay vornehmen, die Kunst des multiperspektivischen Sehens einüben und die Bilder und Papierarbeiten der Expressionisten, Futuristen, Kubisten, Russischen Konstruktivisten, Dadaisten und Surrealisten räumlich zueinander in Beziehung setzen. Die Voraussetzungen für eine funktionierende Interaktion zwischen den aus Sammlungsbeständen ausgewählten, häufig wechselnden Exponaten und den Museumsbesucher*innen zu schaffen, war El Lissitzkys Aufgabe. Er erfand ein variables Ausstellungsdisplay, indem er, so beschreibt es Beatrix Nobis, die Wände mit schwarz-weißen Lamellen verkleidete und verschiebbare Kassetten anbrachte:
Horizontal, vertikal und treppenförmig angeordnet, geben sie das Format vor und bilden als ordnende geometrische Elemente den Gegenpart zur Ruhelosigkeit der Lamellenwände. Vor den Kassetten laufen auf Schienen schwarze Tafeln, ursprünglich als gelochte Eisenjalousien geplant, jetzt aber geschlossene Masken, die jeweils eines der übereinander angeordneten Bilder vollständig verdecken. Der Betrachter ist aufgefordert, diese Tafeln zu verschieben. Er darf und soll Bilder verdecken und freilegen, darf sich selbst ‚ein Bild machen’ von dem, was sich seinem Auge darbietet.[8]
El Lissitzky maß seinem Entwurf eines flexiblen Ausstellungsdisplays im Provinzialmuseum Hannover großen Wert bei. Auf Dorners Museumskonzeption Bezug nehmend resümierte er 1941 in seiner Autobiographie:
1926 beginnt meine wichtigste künstlerische Arbeit, die Gestaltung von Ausstellungen. In diesem Jahre wurde ich vom Komitee der Internationalen Kunstausstellung in Dresden aufgefordert, den Raum der Gegenstandslosen Kunst zu gestalten, und von ‚Woks‘ (der Verbindungsstelle mit dem Ausland) dorthin kommandiert. Nach einer Studienreise, die die neue Siedlungsarchitektur in Holland zum Gegenstand hatte, kehrte ich im Herbst nach Moskau zurück. 1927 Typographische Ausstellung in Moskau. Entwurf für den ‚Raum der Abstrakten‘ im Landesmuseum zu Hannover, im Auftrag von Dr. Dorner.[9]
Zu dieser Zeit hatte El Lissitzky, ein international erfahrener und gut ausgebildeter Architekt, der sich als Verfechter der Idee eines „Neuen sowjetischen Menschen“ anfangs in die Kultusbürokratie der Russischen Revolution einzufügen suchte, bereits einsehen müssen, dass der Suprematismus und sein Konzept PROUN bei der Kommunistischen Partei der UdSSR auf wenig Gegenliebe stieß. Er verließ die Kunstschule in Witesbk, an der er als Leiter der Werkstatt für Grafik, Druck und Architektur tätig gewesen war. Schon 1921, als 25 Künstler, darunter Alexander Rodtschenko und Ljubow Popowa, öffentlich ihren Verzicht auf die sogenannten schönen Künste zugunsten produktiver Arbeit in Industrie und Design erklärt hatten, kehrte El Lissitzky der Sowjetunion den Rücken und in eben jenes Land zurück, in dem er studiert hatte. Er ging nach Deutschland, genauer gesagt, nach Berlin, spielte mit dem Gedanken, Theo van Doesburg ans Bauhaus in Weimar zu folgen, landete stattdessen aber in Hannover, wo er in Alexander Dorner, Eckhard von Sydow und Kurt Schwitters enge Freunde und tatkräftige Unterstützer fand. Im Januar 1923 konnte El Lissitzky, mittlerweile Anfang Dreißig, seine erste Einzelausstellung realisieren, und zwar in den Räumen der Kestner-Gesellschaft in Hannover. Bis 1930 unterrichtete er zudem an der WChUTEMAS in Moskau, wo er als Ausstellungs- und Plakatgestalter tätig war. El Lissitzky war somit, während das Kabinett der Abstrakten in Hannover allmählich Gestalt annahm, in Dresden als Ausstellungsarchitekt tätig, in Holland zu Recherchezwecken in Sachen Wohnungsbau unterwegs und in Moskau mit einer zeitgemäßen Präsentation von Reproduktionsmedien wie Typografie und Grafik betraut.
Warum halte ich diese biographischen Details in unserem Zusammenhang für relevant? Weil, so hoffe ich, durch die Nennung des Handlungsspektrums sowie der geschichtlichen Ereignisse, die El Lissitzkys Lebens- und Arbeitsform beeinflusst haben, deutlich geworden sein dürfte, dass El Lissitzky nicht als freier Künstler auftrat, der nur sich selbst verpflichtet ist und vom Entwurf bis zur Ausführung ein Projekt zu steuern und umzusetzen anstrebt. El Lissitzky war ein sozial engagierter Architekt, d. h., für ihn war es selbstverständlich, an verschiedenen Orten zugleich und im Auftrag anderer zu arbeiten, sei es einer musealen Institution, einer Hochschule oder der Kulturabteilung eines Staates. Zudem sah er es offenbar als genuine Aufgabe eines Künstlers an, bildungspolitisch tätig zu sein. Gemeinsam mit dem Museumsdirektor verfolgte er daher in Hannover das kulturpolitische Ziel, das Kunstmuseum aus seiner bildungsbürgerlichen Tradition zu verabschieden und mittels geeigneter pädagogischer und didaktischer Konzepte in „ein Erziehungsinstitut der großen Masse des Publikums“[10] zu verwandeln.
Die von ihm eingesetzten Lenkungsmechanismen sollten nicht zuletzt dazu beitragen, Unterschiede der Ausstellungsbesucher*innen im Hinblick auf deren soziale und nationale Herkunft, Bildungshorizont und Kaufkraft zu nivellieren. Zu diesem Zweck präferierte El Lissitzky den Körperbezug, das Denken mit der Hand. Er appellierte an die Kunstrezipient*innen, selbständig tätig zu werden, die Kunstwerke im Raum immer wieder neu zu verorten und zueinander in Beziehung zu setzen und selbst – physisch, psychisch und intellektuell – Position zu beziehen. Was Walter Benjamin in seinem Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit scharfsinnig auf den Punkt gebracht hat, trifft ebenso auf den von Dorner und El Lissitzky gemeinsam konzipierten Demonstrationsraum zu: „Die Aufgaben, welche in geschichtlichen Wendezeiten dem menschlichen Wahrnehmungsapparat gestellt werden, sind auf dem Wege der bloßen Optik, also der Kontemplation, gar nicht zu lösen. Sie werden allmählich nach Anleitung der taktilen Rezeption, durch Gewöhnung, bewältigt.“[11] Mit dem Kabinett der Abstrakten wurde dem Publikum ebenfalls ein kollektiver Erfahrungsraum offeriert, der es an die ‚neue Kunst’ gewöhnte, indem es ihm erlaubte, diese zu berühren und von ihr berührt zu werden.
Betonen möchte ich, dass El Lissitzkys Konzept gerade nicht darauf abzielte, einzelne Kunstwerke im Raum jeweils optimal zur Wirkung zu bringen. Als Architekt, Plakatgestalter und Typograf war El Lissitzky es vielmehr gewohnt, in Kategorien der Vervielfältigung, der Reproduktion, zu denken. So formulierte er es dezidiert als sein Anliegen, mit seinen drei Demonstrationsräumen, worunter auch das Kabinett der Abstrakten fällt, „Standards aufzustellen für Räume, in denen der Allgemeinheit neue Kunst gezeigt wird.“[12] Analog zu den Modellen der Typisierung und Standardisierung im Wohnungsbau, die er in den Niederlanden in Augenschein genommen hatte, schwebte ihm ein transportabler, an verschiedenen Orten einsetzbarer, aus modularen Bestandteilen zusammengefügter Ausstellungsraum vor, der seine Funktion – die Allgemeinheit an die ‚neue’ und damit an die ungegenständliche Kunst zu gewöhnen – optimal zu erfüllen imstande war.
Fassen wir den Produktionsbegriff, von dem das Kabinett der Abstrakten zeugt, noch einmal kurz zusammen: Wir haben es mit einem Modell von Kollektiver Autorschaft zu tun. D .h. die Institution, vertreten durch den Museumsdirektor, und der Architekt arbeiten zum Zwecke der ästhetischen Erziehung der Ausstellungsbesucher*innen als Ausstellungsgestalter Hand in Hand. Die bildenden Künstler, die einzelne Werke schaffen, liefern das notwendige Anschauungsmaterial, haben jedoch, ähnlich, wie der Regisseur eines Films, der ja auch nicht für die Rezeptionsbedingungen im Kinosaal verantwortlich zu machen ist, keinen Einfluss auf den Raum, in dem die Kunst gezeigt wird. Die Rezeption soll unter Einsatz des Körpers, insbesondere im Modus des Handanlegens, erfolgen. Ferner haben wir es mit einem variablen Ausstellungskonzept zu tun, das sich ausstellungstechnisch der Mechanismen der Standardisierung und Typisierung bedient, mithin das einzelne Kunstwerk den Prämissen der Reproduzierbarkeit des gebauten Raumes unterordnet.
Abb. 2El Lissitzky, Kabinett der Abstrakten, 1927. Rekonstruktion im Sprengel Museum Hannover, 1982. (Bildnachweis: Sprengel Museum Hannover, Dirk Erdmann)
Abb. 4El Lissitzky, Kabinett der Abstrakten, 1927. Ursprungsversion im Provinzialmuseum Hannover, 1928. (Bildnachweis: Sprengel Museum Hannover, unbekannter Fotograf)
Womit wir beim Einsatz eines weiteren Reproduktionsmediums, der Ausstellungsfotografie, angekommen wären, das allerdings erst bei der Rekonstruktion zum Einsatz kam. Initiiert von Lydia Dorner, der Witwe Alexander Dorners, und angefacht durch die Ausstellung Die Zwanziger Jahre in Hannover wurde 1962 der Wunsch nach Wiederherstellung des 1937 im Zuge der Beschlagnahmungsaktion Entartete Kunst zerstörten Kabinetts der Abstrakten laut. Nicht zuletzt aus Gründen einer erhofften Wiedergutmachung entschied man sich für eine bauliche Rekonstruktion. Der unter Leitung des Architekten Arno J. L. Bayer realisierte Nachbau des Kabinetts der Abstrakten wurde 1968 im Niedersächsischen Landesmuseum in Hannover durch den damaligen Direktor Harald Seiler im Raum 41 eingeweiht (Abb. 2) und 1978/79 ins nahe gelegene, soeben fertig gewordene Sprengel Museum Hannover (Abb. 3) transferiert. Zur Rekonstruktion wurden Baupläne und Beschreibungen El Lissitzkys herangezogen, vor allem aber historische Ausstellungsfotografien (Abb. 4).
Abb. 5El Lissitzky, Schau Kabinet Hannover Museum [Entwürfe zum Kabinett der Abstrakten], 1926/27. Aquarell, Farbstift, Bleistift auf Karton. (Bildnachweis: Sprengel Museum Hannover, Herling/Gwose)
Neben Kompromissen, was die räumliche Situation angeht, – die Einbindung in den von Dorner konzipierten Museumsrundgang und damit das Narrativ der Weimarer Zeit fehlt; der Raum hatte ursprünglich zwei Ein- bzw. Ausgänge und ein Fenster – erweist sich der Verlust von El Lissitzkys Farbkonzept als größtes Manko. Dieser Verlust lässt sich am plausibelsten durch die Dokumentenlage erklären. Die Schwarzweißfotografien zeigen zwar im Detail das Wandsystem, das aus Lamellen aus einem industriell gefertigten Material – dünnen Eisenbändern aus Nirostastahl – bestand, lassen in ihrem Grauwertschema jedoch weite Interpretationsspielräume zu, was die Farbgebung des Kabinetts angeht. Während Konstruktionszeichnungen (Abb. 5) darauf verweisen, dass die Rahmen der Kassetten einst in Blau und Rot angelegt waren, und eine Besucherin sich, wie bei Ulrich Krempel nachzulesen ist, daran erinnert, die Decke des Raumes sei ursprünglich gelb gewesen[13], beschränkt sich die Rekonstruktion des Kabinetts der Abstrakten auf eben jenes Spektrum, das die Schwarzweißfotografien so vorbildlich überliefert haben: Schwarz, Weiß und Grau. Während El Lissitzky einst davon sprach, dass die durch die Farbwirkung erzeugte optische Dynamik den Betrachter lebendig mache, bewirkte der Vorbildcharakter der überlieferten historischen Fotografien das genaue Gegenteil. Er sorgte für eine Stillstellung des Blicks und erzeugte die Vorstellung von einem historischen, in der Zeit des Nationalsozialismus schuldhaft verloren gegangenen Idealzustand, von einem Sehnsuchtsort, an dessen unerreichbarer Perfektion sich der rekonstruierte Raum messen lassen muss.
Ist die Ausstellungskopie von 1979, die auf die historischen Fotografien rekurriert, also ein mit Mängeln behaftetes Derivat? Ein notdürftig zusammengezimmertes Substitut? Ein nachgereichtes Zeitdokument ohne ästhetischen und historischen Eigenwert? Ich würde sagen, nein, durchaus nicht. Ich behaupte vielmehr, dass gerade die kollektive Autorschaft und die Verknüpfung von produktions- und rezeptionsästhetischen Anteilen, die das Kabinett der Abstrakten aus den 1920er Jahren auszeichneten, eine Ergänzung um weitere medien- und institutionengeschichtliche Dimensionen legitimieren. Somit ist die Rekonstruktion des Kabinetts der Abstrakten, wie sie bis Ende 2016 im Sprengel Museum zu sehen war, weit mehr als eine Hommage an die sogenannten „Goldenen Zwanziger Jahre“. Sie ist Dokument der aggressiven Zerstörung eines ambitionierten Ausstellungsdisplays durch die nationalsozialistische Kulturpolitik – ein in Grau und Schwarz gehülltes Zeugnis von Trauer und Verlust. Sie ist aber auch Zeugnis der bundesrepublikanischen Protestkultur der 68er und ihrer drängenden Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit.
Doch nicht nur das. Die Ausstellungskopie lässt sich darüber hinaus auch als modellhafte Meta-Ausstellung bezeichnen, denn sie macht multisensuell einen Ausstellungsraum erfahrbar, der erfunden wurde, um den Ausstellungswert zu feiern. Der Ausstellungswert aber hat erst, um noch einmal Walter Benjamin zu zitieren, in Fotografien seine Dominanz zu entfalten begonnen: „In der Photographie beginnt der Ausstellungswert den Kultwert auf der ganzen Linie zurückzudrängen. Dieser weicht aber nicht widerstandslos. Er bezieht vielmehr eine letzte Verschanzung, und die ist das Menschenantlitz.“[14] Das Menschenantlitz begegnet uns allerdings gerade nicht in den historischen Fotografien des Kabinetts der Abstrakten. Die Aufnahmen des menschenleeren Demonstrationsraums lenken die Aufmerksamkeit vielmehr auf die unveränderlichen Dimensionen desselben, auf die Materialität, auf die Machart des Ausstellungsraumes; zweitrangig werden die lebendigen Anteile, die Variabilität der Werkpräsentationen, die Funktionsmechanismen der Ausstellungssysteme, die Überraschungseffekte, die Publikumsadressierung – ja das selbständige Agieren der Ausstellungsbesucher*innen. Anders gesagt: Rezeptionsästhetisch tritt an die Stelle des lebendigen Berührens der Kunst und des Berührtwerdens durch die Kunst eine anerkennende Bewunderung für einen zum Bild gewordenen Ausstellungsraum der Moderne.
Einzug in die Kunstgeschichte hält mithin „the iconic Avant-garde curatorial gesture“[15], um eine Formulierung von Charles Esche aufzugreifen. Indem die historische Fotografie das zerstörte, unwiederbringlich verloren gegangene Kabinett der Abstrakten in einen Gedächtnisort verwandelt, ergreift sie Partei im Konflikt der sogenannten Museumskunst und ihrer modernen Antithese, der sogenannten lebendigen Kunst. Wie Hubert Damisch in seinem Aufsatz Das Museum im Zeitalter seiner technischen Verfügbarkeit dargelegt hat, übernimmt das Museum traditionell die Aufgabe, Träger eines spezifischen Gedächtnisses, ja Monument zu sein, während die „lebendige Kunst“ sich über die Zurschaustellung einer Aktualität definiert, die sich durch ‚Neuheit’ auszeichnet, deren Erinnerungswert aber noch nicht ausgelotet ist. Das Museum verspricht dem Besucher Erkenntniswert; die lebendige Kunst verspricht ihm (Selbst-)Bewusstwerdung. Diese (Selbst-) Bewusstwerdung setzt eine Erfahrung voraus, die über das Bekannte hinausgeht, mit dem Erfahrungsschatz nicht abgeglichen werden kann. Hubert Damisch bezieht sich mit diesem Denkmodell auf Sigmund Freud, der in Jenseits des Lustprinzips zu dem Schluss kam, dass das Bewusstsein an Stelle der Erinnerungsspur entstehe.[16] Könnte nicht, so fragt Damisch,
um die Freudsche Hypothese, dass innerhalb desselben Systems zwischen Bewusstwerdung und Erinnerungsspur eine Inkompatibilität besteht […] zu paraphrasieren, – im Kontext des Museums ein Widerspruch auftreten zwischen der Möglichkeit für die Kunst, in ihren jüngsten Erscheinungsformen gezeigt, ausgestellt und publiziert zu werden, und der Aussicht, sich unverzüglich in die Geschichte einzuschreiben, indem sie sich in den Schatz einfügt, den zu beherbergen Auftrag der Institution ist und zu dem sie zunächst, bevor sie sich in ihm resorbiert, nur in parasitärem Verhältnis stehen kann?[17]
Es ist eben dieser unlösbare Widerspruch, der in der musealen Ausstellung der ‚lebendigen’ und ‚neuen’ Kunst der Moderne liegt, der sich in der Rekonstruktion des Kabinetts der Abstrakten manifestiert. Die Ausstellungskopie der 1960er Jahre, die auf ein verloren gegangenes Ausstellungsdisplay der 1920er Jahre rekurriert, ja, die wir getrost als eine in die Dreidimensionalität überführte Fotografie, eine dem Bild nachfolgende räumliche Konstruktion bezeichnen können, scheint die beiden unvereinbaren Funktionen, die Hubert Damisch einerseits dem Museum und anderseits der „lebendigen Kunst“ zuschreibt, in sich zu vereinen: Die Ausstellungskopie erlaubt es dem Rezipienten, die Kunst zu berühren und selbst aktiv zu werden, doch um den Preis eines von der Kunst nicht mehr Berührtwerdens, eines Wiedererkennens – und damit der Erfahrung einer Historisierung seiner selbst. Denn wer heute das Kabinett der Abstrakten betritt, der weiß, dass er sich in einer Ausstellungskopie, in einem Raum gewordenen Monument des Verlusts, in einer Vorrichtung zur Verkehrung der Zeitfolgen befindet. Die Rekonstruktion des Kabinetts der Abstrakten wurde vom Museum in Auftrag gegeben und angefertigt, damit das Kabinett der Abstrakten sich auch noch nach seinem ‚Ableben’ in das kollektive Gedächtnis einzuschreiben vermag. Dies aber ist nur möglich, wenn der Rezipient, die Rezipientin der Gegenwart vorübergehend in die Rolle der Museumsbesucher*innen der 1920er Jahre schlüpft. Der Rezipient, der Anfang des 20. Jahrhunderts als neuer Akteur die Bühne der Kunst betrat, tritt auf den historischen Fotografien nicht in Erscheinung. Umso wichtiger ist es, dass die Ausstellungskopie es den heutigen Museumsbesucher*innen abverlangt, sich aktiv an der Rekonstruktion der Gesamtsituation zu beteiligen – wohl wissend, dass diese historisch geworden und keineswegs als eine ‚authentische’ wiederzugewinnen ist. Es ist diese durch keine Fotografie je einholbare körperliche Präsenz der Rezipient*innen im Gedächtnisort Museum, die das Unmögliche möglich macht: dass sich die Geschichte der Kunst lebendig in der Gegenwart herstellt.
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>>> Kai-Uwe Hemken: Der bioskopische Raum. El Lissitzkys 'Raum für konstruktive Kunst’ (1926)
[1] Ulrich Krempel: Kurt Schwitters’ Merzbau und El Lissitzkys Kabinett der Abstrakten. Zwei Rekonstruktionen von zerstörten Räumen der Moderne im Sprengel Museum Hannover, in: Annette Tietenberg (Hrsg.): Die Ausstellungskopie. Mediales Konstrukt, materielle Rekonstruktion, historische Dekonstruktion, Köln/Weimar/Wien 2015, S. 115 -128; Kai-Uwe Hemken/Jakob Gebert: Autor und Authentizität. Probleme der Re-Konstruktion am Beispiel des Raums der Gegenwart von László Moholy-Nagy und Alexander Dorner, ebd., S. 129-144.[2] Daniel Buren: Erinnerungsphotos 1965-1988, Basel 1989, S. 3.[3] Vgl. Oskar Bätschmann: Ausstellungskünstler. Kult und Karriere im modernen Kunstsystem, Köln 1997.[4] Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts wurden in England und Frankreich erstmals Eintrittsgelder für den Besuch von Ausstellungen verlangt.[5] Hubert Locher: Die Kunst des Ausstellens, in: Kai-Uwe Hemken (Hrsg.): Kritische Szenografie. Die Kunstausstellung im 21. Jahrhundert, Bielefeld 2015, S. 41-62, hier S. 45.[6] Alexander Dorner: Überwindung der Kunst, Hannover 1959. Zitiert nach: Krempel: Zwei Rekonstruktionen (Anm. 1), S. 123.[7] Vgl. Boris Groys: Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie, München 2007.[8] Beatrix Nobis: El Lissitzky: Der ‚Raum der Abstrakten‘ für das Provinzialmuseum Hannover 1927/28, in: Bernd Klüser/Katharina Hegewisch (Hrsg.): Die Kunst der Ausstellung. Eine Dokumentation dreißig exemplarischer Kunstausstellungen dieses Jahrhunderts, Frankfurt am Main/Leipzig 1991, S. 76-83, hier S. 78/79.[9] El Lissitzky: Ausst. Kat. Busch-Reisinger Museum Cambridge/Sprengel Museum Hannover/Staatliche Galerie Moritzburg Halle. Hannover 1988, S. 73.[10] Dorner nach Krempel: Zwei Rekonstruktionen (Anm. 1).[11] Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (zweite Fassung), in: Walter Benjamin. Gesammelte Schriften I.2, S. 471—508, hier S. 505.[12] El Lissitzky: Demonstrationsräume, in: El Lissitzky. Ausst. Kat. Stedelijk van Abbemuseum Eindhoven/Kunsthalle Basel/Kestner Gesellschaft Hannover. Hannover 1966, S. 58.[13] Krempel: Zwei Rekonstruktionen (Anm. 1), S. 125.[14] Benjamin: Kunstwerk (Anm. 11), S. 445.[15] Charles Esche: A Different Setting Changes Everything, in: Germano Celant (Hrsg.): When Attitudes Become Form, Bern 1969/Venedig 2013. Ausst. Kat. Fondazione Prada, Mailand 2013, S. 469-476, hier S. 473.[16] Sigmund Freud: Jenseits des Lustprinzips (IV), in: ders.: Psychologie des Unbewußten, Studienausgabe Bd. II, Frankfurt am Main 1975, S. 234-243, hier S. 235.[17] Hubert Damisch: Das Museum im Zeitalter seiner technischen Verfügbarkeit, in: Dorothea Hantelmann/Carolin Meister (Hrsg.): Die Ausstellung. Politik eines Rituals, Zürich/Berlin 2010, S. 115-130, hier S. 116.
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